Donnerstag, 30. Oktober 2008

Die Zärtlichkeit des Alltags

In der letzten Woche ist mir dieses Thema ein paarmal in unserem Blogdings begegnet, und ich wurde nun sogar gebeten, mal was darüber zu schreiben, was mir eine grosse Ehre und Freude ist.
Ich hatte das grosse Glück, in einer gastfreundlichen, vorurteilsfreien und Freundlichkeit liebenden Familie aufzuwachsen. Bereits meine Eltern lebten mir vor, daß jedes Lebewesen Respekt und Freundlichkeit verdient, ganz egal, ob es nun ein Hochschulprofessor oder eine spanische Putzfrau ist.
Nachdem ich die tiefe Verwirrung und Unsicherheit meiner bewegten Adoleszenz hinter mir gelassen hatte, entdeckte ich bewusst die grosse, positive Wirkung, die Freundlichkeit in meinem Umfeld zu bewirken vermag, und machte mit den Jahren für mich eine kleine Wissenschaft daraus.
Ich durchlief verschiedendste Experimentieranordnungen als z.B.Fabrikarbeiterin, Kellnerin, Supermarktsangestellte,Büroangestellte,Bonbonverkäuferin,
Fahrerin, und auch als Klientin, Käuferin, Gast und Patientin.
Das versetzte mich in die Lage, mich in viele Siuationen reinversetzen zu können, wie z.B. gestresste Kellnerin, genervte Fahrerin, verwirrte Supermarktsangestellte an der Kasse, unzufriedene Kundin, ängstliche Patientin etc.
Hier nun ein paar meiner Untersuchungsergebnisse, und Erkenntnisse, vielleicht auch als kleiner Wegweiser mit auf den Weg zu nehmen:
Jeder Mensch, wird er auch nur Arbeitnehmer, Dienstleister oder Konsument genannt, ist und bleibt ein Mensch. Ob er als Arschloch daher kommt, ist nicht Dein Problem, und man sollte es grundsätzlich NIE persönlich nehmen. Wer weiss schon, was der missmutig blickenden und kurzangebundenen Bäckersfrau an diesem Morgen passiert ist? Vielleicht ist ihr Kind krank, ihr Mann hat sie verlassen, oder sie hat eine Krebsdiagnose in Aussicht? Vielleicht muss sie sich ganz arg anstrengen, nicht zu weinen, und sieht deßhalb so verkniffen aus. Sie steht da den ganzen Tag, und die Gesichter branden vorbei, viele sicher auch unfreundlich, weil sie selbst so unfreundlich scheint, und weil auch viele Leute ihre negative Energie dazu benutzen, selbst ein bisschen von ihrer eigenen schlechten Laune an den Mann zu bringen, die sie auch den ganzen Tag unterdrücken müssen. Und schon haben wir ein unfreundliches Klima, über das sich so viele Deutsche beklagen.
Ich hatte das grosse Glück, meine Studien in Spanien fortsetzen zu können, die im Vergleich zu uns eine viel ausgeprägtere Kultur der Zärtlichkeit im Alltag haben, und zudem sehr temperamentvoll sind, was das Ganze sehr unterhaltsam macht.
Wie oft stand ich in der Warteschlange einer Supermarktskasse, während die Kassendame Duzi-Duzi mit Babys machte, und nach dem Befinden der alten Dame fragte. Die einzigen Beschwerden kamen regelmässig von deutschen Touristen, und wurden einfach freundlich ignoriert. Die 5 Minuten, die ich dort länger stand, nutzte ich immer gern zum Rumgucken, und Lauschen, in einem spanischen Supermarkt kann man sehr viel über die Mentalität der Leute lernen. Diese 5 Minuten, oder 10, oder generell Wartezeiten unbestimmter Zeit, ist etwas, was sich oft einfach nicht ändern lässt, aber doch sehr viele Leute zum Wahnsinn treiben kann, und leider dazu bringt, unfreundlich zu werden.
Ich habe dort 2 Jahre deutsche Autos umgemeldet, d.h. ich war jeden Tag beim TÜV und auf den verschiedendsten Ämtern, unter anderem auch beim Ausländeramt (denn dort war ich die Ausländerin), und ich habe in den langen Wartezeiten so viele nette Leute kennengelernt, und so viel interessante Sachen beobachten können, daß es mir nie wie warten, sondern immer -wie Leben vorgekommen ist. Wenn man mit Leuten konfrontiert ist, die man nicht kennt, dann kann man sie anlächeln, man kann sie was fragen, irgendwie werde ich auch oft um Hilfe gebeten, oder was gefragt, und es gibt, trotz grösster Verschiedenheit fast immer gemeinsame Themen, die oft aus der Situation entstehen. Wenn Kinderchen dabei sind, ist sowieso alles prima. Gerät man an jemanden wirklich schlecht gelaunten, kann man ihn auch erstmal helfen, Luft abzulassen, was bedeutet, man nimmt nichts persönlich, sondern bleibt einfach freundlich, bis das Gegenüber etwas Spannung losgeworden ist, und macht dann sachlich weiter. Diesen schönen Trick habe ich von einer Mitarbeiterin des Ausländeramts abgekuckt, sie hat ihn erfolgreich an MIR angewendet. Ich wartete dort 3 Stunden hauptsächlich stehend, ganz sicher, alle Papiere dabeizuhaben, da ich vorher angerufen hatte, und die Tante erzählt mir: Nein, aber so und so und so.
Ich bin normalerweise sehr geduldig, und selten ungehalten, schon weil ich eher schüchtern bin, und nicht auffallen will, aber da wurde ich puterrot, und schaffte es sogar auf Spanisch wirkungsvoll meinen, wie mir schien berechtigten Unmut kundzutun. Der ganze, offene Wartesaal, bis zum letzten Platz mit Menschen jeder Hautfarbe und Nationalität besetzt, schwieg wie ein Mann, und lauschte wie ein Mäuschen und die Beamtin vor mir liess mich tatsächlich bis zum Ende meiner empörten Tirade ausreden (ich glaube, ich habe mich 3 Minuten ununterbrochen aufgeregt, was sehr lang sein kann, zumal, wenn man hyperventiliert), lächelte dann sehr freundlich, und meinte, ja, also, schauen wir nochmal, wir klärten das und ich bekam meinen Stempel. Ich entschuldigte mich dann sogar noch bei ihr, und dankte ihr herzlich. Natürlich klappt so etwas nicht immer, aber es ist ein guter Ansatz, die Leute erst mal reden zu lassen, ihnen Spannung zu NEHMEN. Wenn man selbst genervt reagiert, erreicht man nur noch mehr Genervtheit, man GIBT noch mehr Spannung hinzu.
Ich glaube, es ist einfach wichtig, jedem Menschen, mit dem man zu tun hat, sei es ein Bettler auf der Strasse oder ein Oberarzt, in die Augen zu schauen, und ihm damit zu signalisieren, daß man ihm auch als Mensch wahrnimmt, aber genauso wichtig ist es, sich selbst als Mensch zu präsentieren, wobei man sein generelles Wohlwollen und eine distanzierte Freundlichkeit vermitteln kann. Distanziert deßhalb, weil man sich selbst trotzdem immer schützen sollte, denn letztlich ist man für die Leute grundsätzlich nicht verantwortlich, aber wenn man helfen kann, es einen selbst nicht in eine schwierige Situaion bringt, dann sollte man es tun!
Viele Menschen hier scheinen Angst vor den kleinsten Gefälligkeiten zu haben, als fürchteten sie, wenn sie es einmal tun, dann müssen sie es immer, und werden ausgenutzt, gleichzeitig wird gejammert, daß zu wenig Hilfsbereitschaft herrscht. Natürlich muss man bei Hilfsbereitschaft eine für sich gesunde Grenze finden, aber es gibt sooooo viele Dinge, da würde uns echt kein Zacken aus der Krone fallen, täten wir sie, da würde die Welt nicht untergehen, wenn wir ein bisschen warten müssten, und wir könnten vielleicht das wunderschöne Gefühl mit nach Hause nehmen, daß wir jemandem ein gutes Gefühl gegeben haben, und vielleicht geben wir dort dieses gute Gefühl an Jemanden weiter. Und ebenso kann es mit dem Empfänger des guten Gefühls sein, der es vielleicht auch wieder weiter gibt, and so on. Hübscher Ping-Pong-Effekt, der leider genauso gut mit schlechten Gefühlen funktioniert.
Ein Mechamitmuss oder ein Mechanixnutz sozusagen.
Natürlich sind alle Menschen auch in diesem Punkt verschieden, ich bin da schon recht extrem, praktiziere den Umgang mit jeglichen Mitmenschen sehr bewusst und bedacht, es macht mir Spass und kommt meinem kommunikativen Wesen entgegen, aber ich meine doch, daß jeder diese Zärtlichkeit des Alltags auf seine Weise verwirklichen und ein bisschen kultivieren kann. Denn wir wissen doch alle, das schönste Bauwerk, sei es auch noch so luxuriös eingerichtet, und nur voller schöner, gutangezogener Menschen, bleibt ein hässlicher Ort, wenn keine Freundlichkeit herrscht. Und das hässlichste Krankenzimmer voller Krankheit und Tod kann der schönste Ort im Universum sein.
Und DAS haben wir in der Hand. Wir alle!
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kepkezkem - 2008/10/30 15:24

Der sicherste Gute-Laune-Killer am Morgen ist die Wiener UBahn.

Man glaubt ja nicht, wie viel schlechte Laune in einen einzigen Waggon passt.

momoseven - 2008/10/30 15:42

Willkommen kepkezkem!

Das glaube ich gern. In so einem geschlossenen Abteil vermag sich die schlechte Laune zu potenzieren, und aneinander hochzuschaukeln. Da wirkt der oben erwähnte Mechanixnutz.
Selber jahrelang in der Nürnberger U-Bahn umhergeschaukelt worden, und festgestellt, daß es wirklich Tage gibt, an denen ALLE schlecht gelaunt sind, weiss nicht wieso, aber U-Bahnen sind starke Indikatoren für die Allgemeinstimmung in der Bevölkerung.
Aber gerade, wenn alle schlecht drauf sind, kann man seinen eigenen Trost aus der Tatsache beziehen, daß man selbst nicht der Grund dafür ist, und sich somit seine eigene Laune einfach nicht killen lassen muss, bzw. verschlechtern lassen muss. Wer selbst mit eigener schlechter Laune an seiner Freundlichkeit festhält, ist ansteckend, denn damit gibt man den Leuten ein gutes Beispiel, wie man auch mit diesem Mist umgehen kann. Und wenn Du die Einzige weit und breit bist, die einer älteren oder schwangeren Person Platz macht, und wenn Dich auch alle noch so blöd anglotzen, tu es, und Du hast ein bisschen die Waage ausgeglichen, in die richtige Richtung geping-pongt und ein kleines bisschen mehr gute Laune in die Welt gebracht, Dir und anderen.
creature - 2008/10/31 09:38

noch ärger als wien finde ich die u-bahn in london, wenn du da am morgen damit fährst und diese gesichter ansiehst...oh my god!
im gegensatz zu madrid oder rom oder mailand, ich weiß es nicht mehr genau, aber da wird geredet und diskutiert oder was auch immer, verstehe ja leider nicht die sprache, aber so ein waggon pulsiert vor leben!
momoseven - 2008/10/31 13:18

Die südlicheren Gefilde Europas, die zum Teil vor wenigen Jahrzehnten noch als Entwicklungsländer galten, haben sich wohl noch ein bisschen mehr von ihrer, temperamentvollen, lauten, aber grundsätzlich menschenfreundlicheren Mentalität erhalten.
Ich liebe die Pariser Metro, und bin stundenlang damit in der Unterwelt rumgefahren, und es nie müde geworden, all die Menschen zu beobachten.
Lady Sunflower - 2008/10/31 07:41

Ein sehr berührender Text!

Es ist sehr schwierig, die Balance zu finden zwischen einmal dem Eingehen auf das Gegenüber und dem somit zu vollziehenden Ausbruch aus dem Kreisel, den man um sich selbst dreht und der sich bei vielen Menschen (und das ist nun nicht wertend gemeint) schon sehr festgefahren hat in seiner Furche, und zweitens der Selbstsorge, die man immer tragen muss und die oft auch ein Distanzieren von manchen Menschen vorschreibt, wenn man merkt, dass diese einem alles andere als gut tun.
Das zu schaffen ist bewundernswert und gelingt sicher keinem Menschen in jeder Situation, aber Du zeigst, dass man eine gewisse Sensibilität dafür entwickeln kann.

Außerdem zeigst Du schön, die Verantwortung eines jeden Einzelnen auf, wenn es um die Schaffung eines angenehmen sozialen Klimas geht und der sich keiner entziehen kann.

momoseven - 2008/10/31 13:29

Hallo Mylady,

freut mich, daß Du mit dem Text was anfangen konntest. Das Bild mit dem Kreisel finde ich sehr schön. Je tiefer die eingefahrene Furche wird, desto schlechter dreht sich der Kreisel mit der Zeit. Ein kleiner Schubs von aussen kann den Kreisel zwar umschmeissen, aber ihn auch auf neuen glatten Boden lenken, wo er sich befreiter weiterdrehen kann.
Was die Verantwortung angeht, so bringt es, glaube ich, mehr, diese vorzuleben, und den Menschen damit Angst zu nehmen, ihnen das Gute daran aufzuzeigen, als belehrend missmutig auf die Fehler hinzuweisen, die doch auch nur allzu menschlich sind.
Lieber Gruss und Schönes Wochenende wünscht Mone
creature - 2008/10/31 09:33

das kann ich nur wort für wort bestätigen was du sagst.
so versuche ich es auch zu machen im umgang mit meinen mitmenschen.
ich finde ja "zärtlichkeit" als eines der schönsten worte die ich kenne und fast niemand kann sich deren zauber entziehen, egal wie grob diese person auch sein mag.

momoseven - 2008/10/31 13:35

Hallo creature,

seltener, aber immer gerngesehener Gast!
Ja! Zärtlichkeit ist eine der schönsten, und wichtigsten Eigenschaften, die der Mensch in sich entwickeln kann, finde ich. Sie beinhaltet Respekt und Rücksicht, und vermag uns wie nichts anderes auf der Welt zu verbinden, macht uns zu Brüdern und Schwestern mit allem Lebendigen.
Ganz liebe Grüsse von Mone

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